Migration & Mittelmeer & Tod & Ertrinken aktuell: Ruud Koopmanns meint …

Sind die Ertrunkenen im Mittelmeer …

… nicht die Folge eines zu repressiven, sondern eines zu liberalen Asylsystems? Das zeigt der Soziologe Ruud Koopmans in seinem neuen Buch und fordert im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT dringend eine Reform.

Herr Professor Koopmans, inwiefern ist unsere Asylpolitik eine „Lotterie“? 

Koopmans: Insofern als ein willkürlicher Prozeß entscheidet, wer bei uns Schutz erhält.

Konkret? 

Koopmans: Um Asyl zu beantragen, muß man die EU-Grenze erreichen. Weltweit sind aber viele Menschen, die an Leib, Leben oder Freiheit bedroht werden, zu arm oder zu schwach, um sich auf den Weg zu machen. Die wiederum, die dazu in der Lage sind, müssen gefährliche Gegenden durchqueren, wie die Sahara, unsichere Staaten oder das Mittelmeer.

Dabei sterben jedes Jahr Zigtausende und weitere Zigtausende werden ausgeraubt, mißhandelt, vergewaltigt, entführt, ja sogar gefoltert oder versklavt. Tatsächlich läuft unsere Asylpraxis also auf eine Art darwinistischen Hindernislauf hinaus, bei dem die Schwächeren auf der Strecke bleiben und die Stärkeren sich durchsetzen.

Moment, Kanzlerin Merkel nannte das „christlich“. 

Koopmans: Das hat sie gesagt, getan hat sie schon damals etwas völlig anderes: denn wie sie die Grenze öffnete, schloß sie sie nach einigen Monaten auch wieder und bezahlte Präsident Erdoğan dafür, daß er weitere Flüchtlinge unterschiedslos zurückwies.

Wie Sie in Ihrem neuen Buch „Die Asyllotterie“ schreiben, ist diese damit allerdings noch nicht zu Ende. 

Koopmans: Nein, denn von denen, die dieses traurige Todesspiel überleben, erhalten europaweit derzeit etwa 45 Prozent einen negativen Asylbescheid. Für sie beginnt die Lotterie erneut, denn viele bleiben trotzdem hier, weil sie keine Papiere haben, ihr Alter oder ihre Herkunft nicht festgestellt werden kann etc. Fazit: Unser Asylsystem leistet nicht, was es leisten soll, nämlich Schutzbedürftigen Zuflucht zu bieten – ohne eine Hintertür für anderweitige Migration zu öffnen. Stattdessen scheitern oft gerade die Schutzbedürftigen an ihm, während es irregulären Wirtschaftsmigranten den Weg in die EU ermöglicht.

Enthält aber, um Mißbrauch zu verhindern, nicht jede gesetzliche Regelung Hürden, an denen nun mal leider immer auch solche hängenbleiben, denen eigentlich geholfen werden soll? Wenn das also in der Natur der Sache liegt, ist „Lotterie“ dann nicht Polemik? 

Koopmans: Nein, denn wenn der Zweck ist, Menschen in Not zu helfen, dann steht es im Widerspruch dazu, zu verlangen, daß sie erst einmal Leib und Leben dafür riskieren.

Was wäre die Alternative? 

Koopmans: Zurückzukehren zum eigentlichen Zweck des Asylrechts. Grundsätzlich werden drei Gruppen durch unser Asylsystem angezogen: Erstens jene, die aus ökonomischen Gründen kommen, die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge – die also eigentlich gar keine Flüchtlinge sind, sondern klassische Einwanderer. Unser System verlockt sie dazu, sich Gefahren auszusetzen, die für Tausende von ihnen mit einem grauenvollen Schicksal enden, nicht nur im Mittelmeer. Zweitens Menschen, die vor Krieg fliehen und direkt in die EU kommen, weil gar kein sicherer Drittstaat dazwischenliegt, wie die Ukrainer. Drittens diejenigen, die zwar Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention sind, aber die über einen sicheren Drittstaat in die Europäische Union kommen, wie die Syrer, die fast alle zuvor in der Türkei waren. Auch sie verführt das System dazu, im Mittelmeer ihr Leben zu riskieren, nicht weil sie auf der Suche nach Sicherheit sind, sondern weil sie sich in Europa ein besseres Leben versprechen.

„45 Prozent der Ressourcen gehen nicht an die Schutzbedürftigen“

Das heißt, die „Schande Europas“, wie die Toten auch gerne genannt werden, sind nicht die Opfer eines zu repressiven, sondern eines zu „liberalen“ Asylsystems? 

Koopmans: Ich denke, ja. Wobei das Ansichtssache ist, denn die, die Grenzen abschaffen wollen, sagen zu Recht, daß es dann natürlich auch keine Toten mehr gäbe.

Dann ist das vielleicht die humanste Lösung? 

Koopmans: Ich denke, nein, denn über kurz oder lang würden so viele kommen, daß unsere Arbeits-und Wohnungsmärkte überlastet wären und die Sozialsysteme kollabieren würden. Übrigens würde auch das andere Extrem funktionieren, nämlich die Grenzen völlig dicht zu machen. Denn hätte niemand eine Chance einzureisen, gäbe es auch keinen Anreiz mehr, sich auf den Weg zu machen – auch das würde die Zahl der Toten massiv senken. Doch müssen wir uns bei beiden Optionen fragen, ob sie ethisch vertretbar sind: Wollen wir den Sozialstaat zerstören? Beziehungsweise wollen wir wirklich Verfolgte im Stich lassen? Für beide Extreme sehe ich bei der Mehrheit der Europäer keine politische Zustimmung. Damit bleibt nur so weiterzumachen wie bisher, mit den bekannten inhumanen Folgen. Oder aber das System so zu ändern, daß es künftig möglichst niemanden mehr in den Tod lockt und gleichzeitig mehr schutzbedürftigen Menschen hilft. Denn derzeit stecken wir ja etwa 45 Prozent unserer Ressourcen für Flüchtlinge in Menschen, die gar kein Recht auf Flüchtlingsschutz haben, statt sie für jene auszugeben, die ihn brauchen, um ihr Leben zu retten.

Was schlagen Sie also konkret vor? 

Koopmans: Daß wir schutzbedürftige Flüchtlinge über sogenannte Kontingente direkt und sicher aus den Konfliktregionen aufnehmen, ohne von ihnen zu verlangen, daß sie sich zuerst auf eine gefährliche Reise bis an die EU-Grenze begeben. Um das zu ermöglichen müßten wir aber zugleich dafür sorgen, daß die Anreize für die irreguläre Asylmigration weggenommen werden. Das geht nur durch Abkommen mit Drittstaaten. Erstens brauchen wir Abkommen mit Herkunftsstaaten, die diese dazu verpflichten, ihre Staatsangehörigen, die als Asylbewerber abgelehnt werden, zurückzunehmen. Zweitens brauchen wir Abkommen mit Transitländern wie Tunesien, Marokko und der Türkei über die Rücknahme von irregulären Migranten, die über diese Länder in die EU eingereist sind. Diese Länder müssen solche Migranten die Möglichkeit bieten, einen Asylantrag zu stellen und wenn nötig Schutz gemäß den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention bieten.

Warum sollten diese Staaten das tun? 

Koopmans: Natürlich müßte die EU für die Kosten der Migranten aufkommen und den Staaten darüber hinaus Vorteile und Anreize bieten, nicht zuletzt in der Form von legalen Möglichkeiten der Arbeitsmigration für ihre Staatsbürger.

Wird das System dadurch nicht horrend teuer? 

Koopmans: Das denke ich nicht, so sind etwa Lebenshaltungskosten in Drittstaaten viel geringer.

Würden diese Staaten die Menschen denn ordentlich unterbringen? Schon in den Lagern auf den griechischen Inseln herrschen zum Teil unzumutbare Zustände. 

Koopmans: Natürlich müßte die EU durchsetzen, daß die Drittstaaten ihre vertraglichen Verpflichtungen einhalten – und das auch kontrollieren.

Länder, die Sie in Ihrem Buch nennen, wie die Türkei oder Tunesien, werden allerdings von vielen nicht als sichere Drittstaaten betrachtet. 

Koopmans: Ich sehe keinen Grund, warum es nicht möglich sein sollte durchzusetzen, daß Drittstaaten dem Schutz der Menschen nachkommen, wenn ihnen dafür entsprechende Anreize geboten werden.

Würden aber diejenigen, die keinen Platz in einem europäischen Aufnahmekontingent bekommen, sich nicht trotzdem auf den Weg nach Europa begeben? 

Koopmans: Nein, für die meisten von ihnen wäre der Anreiz dazu verschwunden, wenn sie wissen, daß sie bei Ankunft in Europa in sichere Drittstaaten wie Tunesien oder die Türkei zurückgebracht werden. Die allermeisten Flüchtlinge, die Europa erreichen, fliehen ja nicht direkt aus dem Verfolger-oder Kriegsland, aus dem sie stammen, sondern über einen dieser Drittstaaten. Für sie, wie auch für Wirtschaftsmigranten, bestünde kein Anreiz mehr, sich auf die Reise nach Europa zu begeben, wenn die Endstation Tunis oder Istanbul statt Berlin oder Amsterdam hieße.

„Bekämpfung irregulärer Migration: Für FDP offenbar keine Priorität“

Verstößt der Ansatz nicht gegen die Genfer Konvention? 

Koopmans: Keineswegs, weil sie besagt, daß Verfolgte Schutz genießen. Nicht aber, daß Asylbewerber ein Recht darauf haben, in die EU einzureisen oder sich während der Prüfung ihrer Anträge dort aufzuhalten.

Ist der Anfang Juni gefundene EU-Asylkompromiß nicht im Grunde die Umsetzung Ihres Konzepts? 

Koopmans: Nein, da dieser, zumindest bisher, keine Abkommen mit Drittstaaten über die Rücknahme irregulärer Migranten und abgelehnter Asylbewerber beinhaltet. Ohne die werden die EU-Pläne kläglich scheitern. Die versprochene schnelle Rückführung von in den Grenzverfahren abgelehnten Asylbewerbern wird dann nicht funktionieren, und man wird sie nach zwölf Wochen trotzdem weiter in die EU einreisen lassen müssen. Ohne Abkommen mit sicheren Drittstaaten wird auch die Zahl der irregulären Migranten nicht abnehmen und wird der vereinbarte Verteilungsmechanismus innerhalb der EU, der nur auf einen geringen Zustrom ausgelegt ist, nicht klappen.

Die Bundesregierung hat sich dem EU-Kompromiß allerdings lange widersetzt. 

Koopmans: Konnte sich aber zum Glück nicht durchsetzen. Doch ist es interessant, daß sie es versucht hat, denn in ihrem Koalitionsvertrag steht im Grunde das Gegenteil, nämlich die Selbstverpflichtung, irreguläre Migration einzudämmen. Bezeichnend ist auch, daß man kaum etwas vom Sonderbeauftragten für Migrationsabkommen der Bundesregierung, Joachim Stamp von der FDP, dazu gehört hat, obwohl seine Partei im Bundestagswahlkampf die Bekämpfung irregulärer Migration versprochen hat. Tatsächlich aber scheint das Thema bei der FDP keine große Priorität zu haben, denn sie überläßt es weitgehend Grünen und SPD.

Braucht Europa dann nicht eine Art Mauer? Denn sonst geht die illegale Einwanderung trotzdem weiter. 

Koopmans: Nein, denn wenn man über die von mir vorgeschlagenen internationalen Migrationsabkommen verfügt, kann man aufgegriffene Illegale jederzeit in Drittstaaten überstellen.

„Wieviel Migranten kommen, ist Frage der Politik, nicht des Systems“

Hat die Polizei das Personal dafür und ist es überhaupt möglich, die Gesellschaft ständig nach Illegalen zu durchkämmen? Zumal wenn bereits die Routinekontrolle eines möglichen Ausländers eine Anschuldigung wegen „Racial Profiling“ einbringt. 

Koopmans: Man wird natürlich nie verhindern können, daß Leute nicht auch illegal ins Land kommen. Aber der Anreiz dafür wäre gering, denn man könnte nicht legal arbeiten und wohnen, bekäme keine Sozialleistungen, wäre nicht krankenversichert …

… und würde trotzdem nach zehn Jahren – jetzt ist er schon so lange da – legalisiert. 

Koopmans: Das darf es selbstverständlich nicht geben, denn das System kann natürlich nur funktionieren, wenn es konsequent umgesetzt wird.

Legal würden allerdings über die von Ihnen vorgeschlagenen Kontingente weiterhin Menschen kommen, die verfolgt werden – das aber sind nicht zwangsläufig auch die, die wir nach Logik der etablierten Politik aus demographischen Gründen brauchen. 

Koopmans: Das stimmt, aber das ist auch nicht das Thema meines Buches.

Das heißt, diese Einwanderung käme noch dazu. 

Koopmans: Richtig.

Tatsächlich soll Ihr Vorschlag die Zuwanderung auch gar nicht senken. 

Koopmans: Mir geht es darum, ein willkürliches, für alle Beteiligten nachteiliges System irregulärer Migration durch ein System geordneter, regulärer Migration zu ersetzen. Der Umfang der Einwanderung ist dagegen Sache der Politik.

Sie schlagen eine Obergrenze von 450.000 Fluchtmigranten pro Jahr vor. 

Koopmans: Für Europa – der deutsche Anteil läge bei etwa 160.000, wobei ich diese Zahl einfach mal in den Raum gestellt habe, weil Deutschland bisher durchschnittlich in etwa so viele Asylgesuche im Jahr bewilligt hat. Allerdings wäre damit der Umfang der Asylmigration schon deutlich niedriger, da derzeit ja zusätzlich zu den 160.000 noch ein großer der Teil der abgelehnten Fälle im Land bleibt.

Dennoch wäre das jedes Jahr eine Großstadt – allein über das Asylrecht. Das Problem der Masseneinwanderung würde also nicht gelöst. Zumal Sie als Möglichkeit, Drittstaaten etwas anzubieten, vorschlagen, diesen Kontingente regulärer Arbeitsimmigranten zu gewähren – die ebenfalls noch hinzukämen. 

Koopmans: Nochmals, wie viele Migranten kommen ist Sache des politischen Entscheidungsprozesses – also der von den Bürgern gewählten Parteien im Parlament. Was die Drittstaaten angeht: Etliche profitieren von der jetzigen irregulären Einwanderung in die EU, weil die Migranten viel Geld nach Hause schicken. Man muß diesen Staaten also einen Ersatz anbieten, wenn sie irreguläre Migranten zurücknehmen sollen. Und das könnte sein, dem Drittstaat die Einreise einer bestimmten Zahl regulärer Arbeitsmigranten in die EU zu gewähren.

Obwohl Sie persönlich eine Obergrenze vorschlagen, die nichts an der Masseneinwanderung ändern würde, werden Sie dennoch als Rassist und Rechtspopulist angefeindet. 

Koopmans: Ja, doch überwiegen die positiven Reaktionen in Medien und Öffentlichkeit klar. Doch natürlich stellt mein Vorschlag keines der beiden schon genannten Extreme zufrieden, weder die „Grenzen auf“- noch die „Grenzen zu“-Fraktion. Vielmehr erfordert er von allen Seiten Zugeständnisse und die Bereitschaft aufeinander zuzugehen.
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Prof. Dr. Ruud Koopmans ist Direktor der Forschungsabteilung „Migration, Integration, Transnationalisierung“ des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung (WZB). Spätestens sein Buch „Das verfallene Haus des Islam“ (2020) machte ihn zum gefragten Gast in den Medien – ebenso nun sein neuer Band „Die Asyllotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukrainekrieg“, das „Politiker auf dem Nachttisch haben sollten“ (FAZ). Geboren wurde er 1961 nahe Amsterdam.

JF 28/23 

Quelle Ausschnitt, Text & Originalbericht

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Seit Jahren schreibe ich gegen gegen den Fluchtweg „Mittelmeer“ als Todesfalle. Es sind mittlerweile über 100 Artikel!

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**Weil das Thema außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Migration, Mittelmeer & Tod“  ist, zitieren wir den Plus-Text komplett. Verweise und alle Kommentare der Leserschaft lesen Sie komplett, wenn Sie die Junge Freiheit plus abonnieren.  Wir empfehlen die Junge Freiheit ausdrücklich: Abonnement

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